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Zerrissen zwischen alter und neuer Heimat

3.4.2023

Lale Akgün setzt sich für einen „vernunftgeleiteten Islam“ ein. Foto: Wolfgang Teipel
Lale Akgün setzt sich für einen „vernunftgeleiteten Islam“ ein. Foto: Wolfgang Teipel

Lüdenscheid. Die Lieder der türkischen Cem-Band sind voller Melancholie. Der Zuhörer spürt regelrecht, wie sich mancher in Deutschland lebende Auswanderer oder dessen Nachfahren nach der Heimat sehen. „Bei vielen von ihnen schlagen zwei Herzen in der Brust. Ein deutsches und ein türkisches.“ Das sagte Dr. Lale Akgün zum Auftakt einer Kooperationsveranstaltung von Stadtbücherei und Integrationsagentur der Diakonie Lüdenscheid-Plettenberg. Die Autorin und SPD-Politikerin war anlässlich der Wochen gegen Rassismus auf Einladung von Evangelia Kasdanastassi (Integrationsagentur) in Lüdenscheid zu Gast. Sie las aus dem Buch „Hüzün . . . das heißt Sehnsucht – wie wir Deutsche wurden und Türken blieben“. Autor des Manuskripts ist der Journalist Baha Güngör. Lale Akgün vollendete das Buch ihres im Jahr 2018 verstorbenen Freundes.

Lale Akgün kam 1962 im Alter von neun Jahren nach Deutschland. Baha Güngör war ebenfalls noch ein Kind, als er 1961 in Aachen eine neue Heimat fand. Er wurde ein in Deutschland und in der Türkei anerkannter Journalist, der sich Zeit seines Lebens zwischen seiner alten und seiner neuen Heimat hin- und hergerissen fühlte.

Das Trio um Cem Cemil Dinc spielte Lieder voller Melancholie. Foto: Wolfgang Teipel
Das Trio um Cem Cemil Dinc spielte Lieder voller Melancholie. Foto: Wolfgang Teipel

„Wenn ich in Deutschland bin, möchte ich in der Türkei sein und umgekehrt“, zitierte Lale Akgün aus dem Buch. Dieser ständige Loyalitätskonflikt und die bohrende Frage, ob sich die Auswanderung gelohnt habe, mache vielen Emigranten zu schaffen und erschwere ihnen die Integration, erklärte Lale Akgün.

Sie hat das Manuskript Buch Güngörs nach seinem Tod mit  einem fiktiven Gespräch vollendet. In diesem Dialog entfacht sich eine lebhafte Diskussion über Zugehörigkeit, Entwurzelung, Mesut Özil, Importbräute und Freundschaft.

So konnte das Publikum in der Stadtbücherei viel über das Lebensgefühl der Menschen erfahren, die in Deutschland leben und zugleich an ihrer alten Heimat hängen. Für viele sei das besonders schwierig, weil der Wegzug aus der Türkei zunächst mit einem sozialen Abstieg verbunden gewesen sei. „Sie fühlen sich wie Gäste, die gern dabei sein wollen, die aber nicht dazu gehören.“

In der regen Diskussion im Anschluss an die Lesung ging es unter anderem um die Frage, ob Integration eher eine Bereicherung oder eine Belastung sei. Lale Akgün, die sich für einen „vernunftgeleiteten Islam“ einsetzt, fordert zu dieser und anderen Fragen eine ehrliche Debatte. Sie sehe bei vielen Migranten nicht das ernsthafte Bemühen, sich zu integrieren. Lale Akgün räumte ein, dass es auf beiden Seiten viele Vorurteile gebe. „Wir müssen uns allerdings bemühen, sie immer wieder zu korrigieren.“

Zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat sie eine klare Haltung. „Wenn er die Wahl im Mai gewinnt, ist die Türkei verloren.“

Zur Person: Lale Akgün wurde 1953 in Istanbul geboren. Dort hat sie bis zum dritten Schuljahr die Grundschule besucht. Seit 1962 lebt sie ununterbrochen in Deutschland. Nach dem Abitur 1972 studierte sie in Marburg/Lahn Medizin und Psychologie. Es folgten Tätigkeiten bei der Stadtverwaltung Köln (Jugendhilfe, Familienberatung). Von 1984 bis 1987 promovierte sie parallel zu ihrer beruflichen Tätigkeit an der Universität Köln im Fachbereich Psychologie. Von Februar 1997 bis September 2002 leitete sie das dem nordrhein-westfälischen Sozialministerium unterstellte Landeszentrum für Zuwanderung (LzZ), das unter ihrer Leitung aufgebaut wurde.

1980 nahm sie die deutsche Staatsangehörigkeit an, nicht zuletzt, weil sie aktiv am politischen Geschehen teilhaben wollte. 1982 trat sie in die SPD ein. Von 2002 bis 2009 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages.

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